Max Sievers – Kämpfer für die Freiheit des Geistes

Rede des Vorsitzenden des Brandenburgischen Freidenker-Verbandes, Ralf Lux, am 18.01.2014 an der Gedenkstätte für die antifaschistischen Widerstandskämpfer am Marienberg, Brandenburg an der Havel, anlässlich des 70. Jahrestages der Ermordung von Max Sievers durch die deutschen Faschisten am 17. Januar 1944 

 

Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Freundinnen und Freunde,
verehrte Anwesende!

Wir haben uns heute hier versammelt, um Max Sievers zu ehren, der vor nunmehr 70 Jahren, hier in dieser Stadt – Brandenburg an der Havel – von den Faschisten ermordet wurde.

Max Sievers war ein unerschrockener Kämpfer für die Emanzipation der Massen von den Dogmen der Kirche und von einer Kulturreaktion, die bestrebt war, den Fortschritt im gesellschaftlichen und freiheitlichen Wollen zu hemmen. Sein Wirken galt der sozialen Gerechtigkeit und der Anteilnahme aller schaffenden Menschen an den kulturellen und geistigen Gütern der Gesellschaft

Er war der langjährige Vorsitzende des Deutschen Freidenker-Verbandes (bis 1930 Verein der Freidenker für Feuerbestattung) und hat sich in dieser Funktion bleibende Verdienste erworben, bei der Einigung und Stärkung der deutschen Freidenkerbewegung.

Sein Hauptaugenmerk galt nicht der strikten Einhaltung irgendeiner Parteilinie, sondern der Bildung und Aufklärung breiter Massen im Rahmen einer sozialistischen Kulturorganisation, zu der sich die Freidenkerbewegung in den 20er Jahren d.v.J. entwickelt hatte – nicht zuletzt durch sein eigenes, engagiertes Wirken.

Er war ein entschiedener Gegner der Volksverdummung und der Unterjochung der werktätigen Massen unter die Interessen des Kapitals und er war deshalb – natürlich – ein überzeugter Friedenskämpfer und Antifaschist, der all seine Kraft dafür einsetzte, das finsterste Kapitel deutscher Geschichte zu überwinden mit dem Ausblick auf eine antifaschistische, demokratische, ja sozialistische Perspektive.

Deshalb musste er vor 70 Jahren – hier in Brandenburg – unter dem Fallbeil sterben, so wie viele andere Widerstandskämpfer auch: Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, Anarchisten. Insofern war Max Sievers einer von vielen, aber für uns als die Vertreter der Freidenkerbewegung des 21. Jahrhunderts, ist das Wirken und der Kampf des Max Sievers natürlich von besonderem Interesse.

Deshalb haben wir uns heute hier eingefunden: Um seiner zu gedenken und um zu manifestieren, dass sein Wirken für Emanzipation und Frieden nicht vergessen ist. Im Gegenteil: Max Sievers ist auch für uns heute noch immer ein Vorbild, dessen Vermächtnis wir auch heute noch zu erfüllen haben.

[Aus dem Leben von Max Sievers]

Max Wilhelm Georg Sievers wurde am 11. Juli 1887 in Tempelhof – damals Landkreis Teltow – als uneheliches Kind geboren. Seine Mutter war einfache Handarbeiterin. Sie heiratete ein Jahr später den Tischler Max Schmidt und zog mit ihm und dem Jungen in das benachbarte Rixdorf, das spätere Neukölln. Dies war ein Proletarierbezirk am Rande Berlins, und hier im „Roten Rixdorf“ erlebte der junge Max Sievers seine ersten Eindrücke von der sozialen Wirklichkeit des Kaiserreiches. Bis zum Jahre 1899 besuchte er die Gemeindeschule und musste danach sofort für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommen. Als Ungelernter besuchte er nebenher eine Abendschule, und so konnte er ab 1907 als kaufmännischer Angestellter bei den Verlagen Scherl und Ullstein arbeiten.

Da er sich als geschickter und gut ausgebildeter Kaufmann erwiesen hatte, konnte er ab 1911 in der Karosseriefabrik Schebera als Prokurist wirken. In den beiden Verlagen war er mit progressiven Arbeitern in Kontakt gekommen, er schloss sich den freien Gewerkschaften an, der Sozialdemokratischen Partei und der Zentralgemeinschaft der proletarischen Freidenker. Dort beteiligte er sich aktiv an der Kirchenaustrittsbewegung, die damals ihren Höhepunkt am 28. Oktober 1912 fand im „Massenstreik gegen die Staatskirche“. Grundlage für diese Bewegung war das Erfurter Parteiprogramm, das 1891′ die „Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken“ gefordert hatte.

1913 hatte Max Sievers geheiratet, doch seine Ehefrau Marie starb bereits 3 Jahre später, vermutlich an Schwindsucht und Unterernährung.

1915 wurde Max Sievers als Soldat einberufen, diente an verschiedenen Fronten und wurde schwer verletzt. So machte er also schon früh – er war ja noch keine dreißig – neben den Erfahrungen mit Elend und Armut der Arbeiterklasse in sogenannten Friedenszeiten auch die Erfahrung mit dem Übelsten, was kapitalistisches Profitstreben und imperialistischer Expansionsdrang hervorzubringen im Stande waren: Der Schrecken des Krieges, der Millionen von Menschen auf den Schlachtfeldern für Kaiser, Gott und Vaterland opferte. Diese Erfahrungen haben ihn ein für alle Mal geprägt und ließen ihn zu einem entschiedenen Kriegsgegner werden.

Nach mehreren Operationen wurde er zuerst in Belgien dann in Berlin zum Sanitätsdienst eingesetzt. Dabei hatte er die Belgierin Denise Wauquieur kennengelernt, die 1921 seine zweite Ehefrau wurde. Seine Kriegserfahrungen hatten ihn radikalisiert. Neben dem Sozialdemokraten Adolph Hoffmann von den Freireligiösen, war er dann maßgeblich daran beteiligt, dass sich viele Sozialdemokraten 1917 der USPD anschlossen. Während der Novemberrevolution unterstützte er die vom Spartakusbund, ausgegebene Losung „Alle Macht den Räten“. Die Idee einer „deutschen Räterepublik“ verfolgte Max Sievers auch über die Wirren der politischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik hinweg bis in die dreißiger Jahre hinein.

Gewählt wurde er in den Neuköllner Soldatenrat und war 1919 Mitglied des aus KPD- und USPD-Mitgliedern bestehenden kommunalen Arbeiterrates, also Stadtverordneter. Seine journalistische Tätigkeit begann im „Arbeiter-Rat“, wo er bald hauptamtlicher Redakteur wurde. In die tagespolitischen Kämpfe und die ideologischen Auseinandersetzungen der Linken griff Max Sievers aktiv ein, er riet dazu, auf die wirkliche Situation nach der gescheiterten Revolution und den Märzkämpfen zu reagieren.

Nachdem die KPD und der linke Flügel der USPD im Jahre 1920 jeweils die Beschlüsse des II. Weltkongresses auswerteten und jeweils ihren Beitritt zur 3. Internationale, der Komintern, beschlossen, kam es zur Vereinigung der beiden Parteien zur VKPD, deren Mitglied somit auch Max Sievers wurde. Er arbeitete in ihrem zentralen Parteiapparat, war für mehrere Wochen auch in der Redaktion der „Roten Fahne“ tätig und redigierte zeitweilig die seit dem 1. Januar 1921 erschienene Abendausgabe.

Doch auch nach der Vergrößerung der KPD zur VKPD blieb die Partei durch interne Flügelkämpfe konfiktbelastet.

Aus heutiger Sicht erscheint es manchmal unbegreiflich, weshalb sich die Arbeiterbewegung in dieser Phase, wo sie die Chance hatte, sich zu einer Massenbewegung mit einer echten Massenpartei an der Spitze zu etablieren, in unzähligen Flügelkämpfen immer wieder selbst lähmte. Doch angesichts der Tatsache, dass linke Gruppierungen noch heute über den wahren Weg zum Sozialismus streiten, steht es uns wohl nicht zu, über die Protagonisten der noch jungen revolutionären Bewegung von damals zu urteilen.

Die VKPD rief seinerzeit zum  Generalstreik und gar zu dessen Überführung in den bewaffneten Aufstand auf, entwickelte die sogenannte „Offensivtheorie“, in der sie ohne Berücksichtigung des tatsächlichen Kräfteverhältnisses die Forderung nach der Offensive um jeden Preis aufstellte. Das  führte letztlich – trotz des heroischen  Kampfes der Arbeiter, von Mitgliedern  der KPD, KAPD und  SPD – zur  Niederlage gegen die Kräfte der Konterrevolution. Zugleich wurde damit die  im Januar 1921 eingeleitete Politik der VKPD einer Orientierung auf die Massen jäh unterbrochen. Viele Arbeiter  wurden im Ergebnis der Kämpfe und  des damals einsetzenden Terrors ermordet, Unzählige verletzt, Hunderte inhaftiert. Auch Max Sievers war einige Wochen in Haft.

Der Parteivorsitzende Paul Levi war – ebenso wie Clara Zetkin und Max Sievers – ein Gegner der Offensivtheorie. Levi legte deshalb Anfang 1921 seinen Parteivorsitz nieder und wurde wenig später aus der KPD ausgeschlossen. Max Sievers trat wenige Monate später (im September) aus der KPD aus, um seinem Ausschluss zuvorzukommen, da er sich nicht von Levi distanzieren wollte, wie die Komintern es verlangte.

Er schloss sich der von Paul Levi gegründeten Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (KAG) an, einem Zusammenschluss aus der Reichstagsfraktion ausgetretener und ausgeschlossener  KPD-Mitglieder, er wurde deren hauptamtlicher Sekretär sowie Redakteur der  von ihnen geleiteten Zeitschrift „Unser  Weg“. Bald kam es jedoch auch zum Bruch  mit der KAG, denn Sievers lehnte im  Gegensatz zu deren Mehrheit den Anschluss an die USPD (Rechte) ab. Er legte seine Funktionen nieder und schied  aus der KAG aus, danach blieb er zunächst parteilos.

Die Erfahrungen aus dieser Zeit haben Max Sievers ganz offensichtlich den Glauben an die Parteien vergällt. Zwar trat er später (1927) wieder in die SPD ein, aber seine Mitgliedschaft dort war nicht die eines Mitgängers: Max Sievers war ein viel zu eigenständiger Geist, und deshalb rechnete er in seinen journalistischen Arbeiten nach der Machtergreifung der Faschisten mit dem reformistischen Kurs der SPD ab. gab ihr die Hauptschuld und lehnte den Kurs des Emigrationsvorstandes unter Otto Wels strikt ab. Auch die KPD, schrieb er 1935, habe versagt, und die KPdSU konnte für ihn wegen der – wie er sich ausdrückte -militärischen Struktur kein Vorbild sein.

Einen völlig neuen und für ihn – und uns – so erfolgreichen Lebensweg beschritt er im Oktober 1922. Er hatte sich um eine ausgeschriebene Stelle beim Verein der Freidenker für Feuerbestattung beworben, und man entschied sich spontan für den Mann, der als geschickter Organisator, glänzender Redner, als ein Mann von Durchsetzungsvermögen bekannt war. Als Sekretär und Geschäftsführer führte er den 1905 gegründeten Berliner Verein zu deutschlandweitem Einfluss. Und er steuerte mit großem politischen Geschick den Verein durch die andauernden Fraktionskämpfe, Spaltungen und Vereinigungen der Linken im nationalem und internationalem Rahmen.

Auch hier in der Friedrichshainer Friedenstraße bewies Max Sievers erneut und erst recht sein Durchsetzungsvermögen und sein Organisationstalent. Eigensinnig und eigenwillig setzte er sich für einmal Erkanntes ein. Der Kaufmann Max Sievers gründete Tochterunternehmen des Vereins, die zu erschwinglichen Preisen Särge, Sterbewäsche und weitere Begräbnis-Utensilien herstellten, in den Zentren des Vereins. wie in Berlin oder Gotha wurde ein eigener Fuhrpark eingerichtet, und in der  Weltwirtschaftskrise wurde der Freidenker-Verlag mit der Urania zum Urania-Freidenker-Verlag Jena vereinigt. Freidenker – denn der Verein hatte den Namen Deutscher Freidenker- Verband – angenommen.

Als bleibendes Verdienst zur Propagierung freigeistiger Ideen gilt Max Sievers` Schrift „Warum Feuerbestattung?“ ansehen. Die Broschüre erschien 1923 und wurde des nachhaltigen Echos wegen zwei Jahre später – etwas erweitert – neu verlegt.  Gleich zu Beginn der Publikation machte Sievers darauf aufmerksam, dass die verschiedenen Feuerbestattungsvereine – auch der seine – anknüpften an die demokratischen Traditionen, zum Beispiel der Freireligiösen, aus der bürgerlichen Revolution von 1848. Durch die Schrift zieht sich der Grundgedanke, dass Feuerbestattung und Freidenkerbewegung zusammengehören, dass sich der Verein nicht in erster Linie als Versicherungsgesellschaft für die ärmeren Bevölkerungs- schichten versteht, sondern Kampfgruppen gegen Kirche und Reaktion erziehen soll.

Durch die ganze Schrift zieht sich der Gedanke, dass das Eintreten für die Feuerbestattung ein politischer Kampf ist. Dazu lesen wir bei Max Sievers: „… wir bekämpfen weiter die grausame Ungerechtigkeit, …dass noch Kapital geschlagen wird aus dem Tod eines Menschen…“ und „Wir fordern, dass der Staat als Repräsentant der menschlichen Gemeinschaft die ihm obliegende Pflicht übernimmt, die Bestattung seiner Toten völlig kostenlos und in würdiger Form zu vollziehen“.

Mit den Jahren der relativen Stabilisierung nach 1924 partizipierte auch  der Verein vom wirtschaftlichen Aufschwung, neue Mitglieder kamen hinzu.  Das gesamte Leben des VdFfF wurde  von Max Sievers reorganisiert. Einerseits  wurden dem Verein Betriebe angeschlossen, die alles Notwendige produzierten bzw. anschafften, was zur Erfüllung der Bestattungsverpflichtungen  notwendig war: Sargtischlerei, Näherei  für Sterbewäsche, Sägewerk, Leichenautos (in verschiedenen Orten), Darlehen für den Bau und Erhalt von Krematorien wurden an Kommunen gegeben.  Hinzu kam eine Statutenänderung, dass  „nicht ein Rechtsanspruch auf kostenlose Bestattungen den Mitgliedern zusteht, sondern die kostenlose Bestattung in freiem Ermessen des Vorstandes  steht“. So wurde die Selbstständigkeit  des Vereins garantiert und die Unterstellung als Versicherungsgesellschaft  unter Reichsaufsicht abgewehrt. Zugleich verstand es Max Sievers, den  Verein entsprechend seinen Vorstellungen in den Jahren 1924 bis 1927 zu einer politisch-weltanschaulichen Organisation umzugestalten, sie enger an die anderen freigeistigen Verbände heranzuführen, also weg von einer vorwiegenden Bestattungs-, hin zur freidenkerischen Kulturorganisation. Damit wurde die Vereinigung mit der Gemeinschaft der proletarischen Freidenker vorbereitet.

Gefördert wurde diese Wandlung  vor allem durch die 1922 entstandene  Reichs-Arbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände der deutschen Republik  (Rag), einem Zusammenschluss aus  Deutschem Monistenbund, Zentralverband proletarischer Freidenker und dem  Bund freireligiöser Gemeinden. Der  VdFfF trat ihr 1924 bei. Von 1926 bis 1928 gehörte Max Sievers dessen geschäftsführendem Ausschuss an.

Gefördert wurde die inhaltliche und organisatorische Entwicklung des VdFfF und der gesamten freigeistigen Bewegung durch das seit 1925 erscheinende Zentralorgan „Der Freidenker“, dessen Herausgeber namens des Vorstands Carl Rückert war. Von Anbeginn war das Blatt auf „rein kulturelle Aufklärung im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus eingestellt.

Gleich in der ersten Nummer des „Freidenker“ ist der Leitartikel von Max Sievers    „Um des Geistes Freiheit“ höchst bemerkenswert. Er schrieb, unter anderem:

Vor den Freidenkern stehe „die Notwendigkeit, sich zusammenzuschließen zum gemeinsamen Handeln auf der Basis der sozialistischen Weltanschauung. Nicht unberührt vom Kampfe der politischen Parteien, aber abseits von ihnen haben wir unsere Arbeit zu verrichten. Die Freidenker-Bewegung darf nicht dienstbar sein einer einzigen Partei, sie kann nur dienstbar sein der gesamten    Klasse. Wir beklagen die Zerrissenheit der Parteien unserer Klasse  Und weiter: „Sind wir auch ein Teil der gesamten sozialistischen Arbeiterbewegung und wollen es auch sein, so sind doch die Methoden, die Waffen, die wir anzuwenden haben, grundsätzlich verschieden von denen, die die Parteien anwenden müssen, um im Gewühl des politischen Kampfes bestehen zu können. Rekrutierungsfeld können wir sein für die politischen Parteien, Stätte, an der der kämpfende klassenbewusste Arbeiter sich weiterbildet und sein Wissen vertieft, sein Können erweitert.“

Am 9. Januar 1927 wurde mit dem Einigungskongress die formelle Vereinigung von VdFfF und GpF vollzogen. Dies war wesentlich das Verdienst von Max Sievers und Hermann Duncker, dem Verantwortlichen für Bildung in der KPD. Die neue Organisation gab sich den Namen Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung e.V., firmierte als deutsche Sektion der 1925 in Teplice (Tschechoslowakei) gegründeten Internationale Proletarischer Freidenker.

Die Mitgliederzahl wuchs an. Doch bald kam es auch im neuen Verband zu ersten größeren Streitigkeiten, die eben doch in Differenzen von kommunistischen und sozialdemokratischen Politikvorstellungen wurzelten.

Es war und ist das bleibende Verdienst von Max Sievers, die deutsche Freidenkerbewegung trotz aller Zwistigkeiten weitestgehend vereint und zu einer echten Massenbewegung entwickelt zu haben.

Besondere Bedeutung für die weitere Entwicklung der Freidenker in Deutschland hatte die anlässlich des 25. Jahrestages des VdFfF in Berlin-Neukölln stattgefundene Generalversammlung (26. bis 28. April 1930). Das rund zwei-stündige Hauptreferat zum Thema „Was will der Deutsche Freidenker-Verband“ hielt Max Sievers. Er fixierte die nächsten kulturpolitischen Aufgaben der Organisation. Besonders wichtig war die beschlossene Statutenänderung, mit der der Verein den Namen Deutscher Freidenker-Verband (DFV) annimmt. Man konnte nunmehr auch Mitglied des Verbandes werden, wenn man keine Bestattungsleistungen in An-spruch nehmen wollte.

Nach dem 30. Januar 1933 versuchte Max Sievers die Arbeit des Deutschen Freidenkerverbandes als Feuerbestattungsverein weiterzuführen. Das misslang, und der Verein wurde unter Zwangsverwaltung gestellt. Nach dem Reichstagsbrand wurde Max Sievers in „Schutzhaft“ genommen und schwer misshandelt. Als er wider Erwarten freikam, gelangte er über Holland und Belgien nach Basel. Die Faschisten brachten das schnell in Erfahrung, und im „Reichsanzeiger“ vom 25. August 1933 erschien die Mitteilung, dass Sievers gemeinsam mit vielen Emigranten wie Heinrich Mann, Wilhelm Pieck, Ruth Fischer oder Lion Feuchtwanger die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden ist.

Im Juni verfügte die Gestapo die Beschlagnahme des Verbandsvermögens. Max Sievers setzte sofort mit vorsichtshalber im Ausland deponierten Geldern die Tätigkeit des DFV fort. Im noch nicht angeschlossenen Saarland erschien die Freidenkerzeitschrift wieder, danach ab 1935 in Brüssel. Als Präsident der Internationalen-Freidenker-Union gab er einen Informationsbrief, unter dem Kürzel SIKO heraus, der auf dünnem Papier gedruckt, bis 1938 nach Deutschland geschmuggelt wurde. Im Februar 1935 erschien in der Ausgabe des „Freidenker“ der Artikel „Die Zukunft der Freidenkerbewegung“, in dem er betonte, dass in Anbetracht der durch Deutschland verursachten neuen Weltlage die altbekannten Forderungen nach Trennung von Kirche und Staat nicht mehr ausreichten. Max Sievers reiste zu Vorträgen durch Europa und die USA, und am 1. Januar 1937 kam die erste Nummer der Zeitung „Freies Deutschland“ Organ der deutschen Opposition“ heraus. Als Schrifteitung war ausgewiesen: Max Sievers und Denise Wauquier – das war der Mädchenname von Sievers` Frau. In einer Auflage von 2000 Exemplaren erschien 1939 in Stockhohn Max Sievers Buch „Unser Kampf gegen das Dritte Reich“. Man kann dieses Buch als Sievers politisches Testament ansehen.

Max Sievers‘ Buch „Unser Kampf gegen das Dritte Reich“ enthält eine Reihe von Anregungen, „über die politisch, aber erst recht aus freidenkerischer Sicht nachzudenken sich noch immer lohnen würde. Durch die Emigration aus seinem angestammten Wirkungsfeld heraus- gerissen und auch wegen seiner eigenständigen Sichtweise, die im antifaschistischen Lager keine breite Zustimmung fand, isoliert, begründete Max Sievers insgesamt ein kämpferisch faszinierendes Konzept zum Sturz des Naziregimes, das in sich schon schlüssig erscheint, das sich aber als undurchführbar herausstellte. Wie gesagt, isoliert und nicht frei von subjektiven Vorstellungen, war sein Blick auf die sozialen Prozesse doch eingeschränkt, die Urteile nicht frei von Irrtümern, und die Hoffnung auf die kraftvoll aufbrechende soziale Revolution, die mit dem Sturz des Faschismus zugleich den Kapitalismus mit hinwegfegen würde, eine Vision, die sich so nicht erfüllte. Was dieses Buch aber von Anfang bis zum Ende auszeichnet, ist der unbedingte Wille, sich der zeitbedingten Situation zu stellen, und ist der ehrliche Versuch, in der Analyse ein realistisches Bild zu entwerfen.“ [1]


Im Februar 1940 ging das Ehepaar Sievers in die USA, doch sie kamen bald aus familiären Gründen (Sievers‘ Schwiegermutter lag im Sterben) nach Belgien zurück. Danach gelang es ihnen nicht mehr, in die USA zurückzukehren, weil die Wehrmacht Belgien überfiel. Das Ehepaar floh nach Nordfrankreich; ein Asylgesuch an die Schweiz wurde abgewiesen. Nach aufregenden Wochen Internierung in Belgien, Flucht aus einem Häftlingszug, lebte das Ehepaar seit August 1940 in Cherénge bei Lille unter den Namen Denise und Henri Loth. So schlecht und recht hielten sich die beiden mit landwirtschaftlichen Gelegenheitsarbeiten und mit einer kleinen Kaninchenzucht über Wasser. Ihre Lage verschlechterte sich zusehends, und so versuchten sie über einen Verwandten der Frau Geld aus der Schweiz herbeizuschaffen. Doch der Bote wurde ergriffen, und unter dem Druck der Vernehmungen verriet er Herkunft und Empfänger. Bereits am 4. Juni 1943 saß Max Sievers der Gestapo gegenüber, und aus dem Vernehmungsprotokoll geht hervor: „Meine politische Einstellung ist nach wie vor sozialistisch„.

Max Sievers wurde nach Berlin überstellt in das berüchtigte Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße und am 24. August 1943 nach Abschluss von zehn Verhören und Erlass des Haftbefehls durch das Amtsgericht Berlin-Mitte in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Plötzensee verbracht. Vorgeworfen wurde ihm „Vorbereitung zum Umsturz des Dritten Reichs“. Am    19. Oktober wurde er dann vom Oberreichsanwalt des Hochverrats angeklagt, „weil er als führender Emigrant durch jahrelange Herausgabe von Schriften, die vielfach in das Reich ein- geschmuggelt worden sind sowie durch die Aufrechterhaltung enger Beziehung zu marxistischen Emigranten agitatorisch und organisatorisch sich vorbereitet und dadurch die Feinde des Reichs begünstigt“ habe.

Vier Wochen später, am 17. November 1943, fand vor dem 1. Senat des sogenannten Volksgerichtshofs unter Vorsitz Roland Freislers (1893 – 1945) bereits die „Verhandlung“ statt. Er fällte das sicher schon vorher feststehende Urteil: „Er wird mit dem Tode bestraft“ wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung“. Außerdem hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen. Insgesamt umfasste das gefertigte Protokoll nur wenige Zeilen: „Die Anklage wurde verlesen; der Angeklagte leugnete nicht; der Anklagevertreter forderte die Todesstrafe; der Pflichtverteidiger beantragte ein gerechtes Urteil’“. Es lautete: Max Sievers wird zum Tode verurteilt.

Am 20. November wurde er von Plötzensee in das Zuchthaus Brandenburg-Görden überführt. Im Dezember 1943 unternahmen zwei Schwestern von Sievers den Versuch, das Leben ihres Bruders mit einem Gnadengesuch zu retten, was selbstverständlich abgelehnt wurde. Vielmehr teilte der Reichsminister der Justiz schon am 5. Januar 1944 dem Oberreichsanwalt mit, dass er „auf Ermächtigung des Führers beschlossen“ hat, „von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen“, und er wies an, nunmehr „mit größter Beschleunigung das Weitere zu veranlassen“.

Am 17. Januar 1944 um 13 Uhr wurde Max Sievers mitgeteilt, dass die Hinrichtung zwei Stunden später erfolge. Das Protokoll vermeldet: „Der Verurteilte verhielt sich während der Verkündigung ruhig und gefasst.“

Heinz Kühn, ein Mitstreiter Max Sievers‘ aus den Tagen des „Freien Deutschland“ charakterisierte ihn in seinen Memoiren wie folgt:

Max Sievers war ein redlicher und uneigennütziger Mann, kein wegweisender Stratege in die Zukunft, aber ein mutiger Troupier in den Gegenwartskämpfen. Er war ein kämpferischer Freidenker von altem Schrot und Korn, politisch links bei den Unabhängigen. Seine Neigung, seinen Widerspruch aufrechtzuerhalten, auch wenn er allein stand, und seine Neigung zu zornigem Aufbegehren gegen alles, was ihm nicht behagte, machten ihn seiner Partei nie anpassungsbereit und seinen Mitarbeitern stets unbequem, was im Laufe der Emigrationsjahre seine wachsende Isolierung und persönliche Vereinsamung verstärkte. Aber bis zuletzt hat er seinen unbeugsamen Mut und seine hingebende Opferbereitschaft bewiesen.

[Lehren und Verpflichtung]

Im Zuchthaus Brandenburg wurden während der Zeit der faschistischen Diktatur über 1700 Personen, die aus politischen Gründen verurteilt worden waren, hingerichtet. Darunter befanden sich solche aufrichtigen Antifaschisten wie die Kommunisten Bernhard Bästlein, Franz Jacob, Anton Saefkow, Werner Seelenbinder, Willi Sänger, Max Maddalena, Theodor Neubauer und Erwin Nöldner – die Sozialdemokraten Jakob Schultheis, Otto Springborn, Michael Hirschberg und eben Max Sievers – sowie die Christen Heinrich Bayer, Joseph Müller, Franz Jägerstätter und Max Joseph Metzger.

Metzger, ein promovierter Theologe und katholischer Priester, Gründer des Friedensbundes Deutscher Katholiken, teilte 1943 im Berliner Gestapo-Gefängnis eine Zelle ausgerechnet mit Max Sievers, dem erfolgreichen Organisator und Führer der Freidenkerbewegung, der in den vorausgegangenen Jahren nicht selten scharfe Kritik gegenüber der Kirche geübt hatte. Und dieser Max Joseph Metzger schrieb über Max Sievers:

Trotz der weltanschaulichen Kluft, die uns trennte, standen wir uns doch in gegenseitiger Achtung näher als andere; ich fand in ihm einen Charakter, der vornehm und gerecht urteilte und gute Kameradschaft pflegte – ich möchte meinen, in ihm wirkt unbewusst etwas weiter von christlicher Erziehung vieler Jahrhunderte deutscher Geschichte. Ja, ich möchte irgendwie einen solchen Menschen mehr zur Gemeinde Christi rechnen als so viele Getaufte, deren Seele unberührt geblieben ist vom Pneuma Christi. Ich habe nicht das Recht, über das jenseitige Schicksal eines Menschen zu urteilen. Jedenfalls ist es mein Glaube, dass „verloren“‘ im eigentlichen Sinn, zur „HöIle“ bestimmt nur ist, wer wider seine Gewissensüberzeugung stand. Wieviel „Christen“ sind da freilich schlechter daran als die Heiden

Es ist nicht überliefert, was Max Sievers wiederum über Max Metzger dachte. Es ist aber anzunehmen, dass sein Verhältnis zu Metzger von Kameradschaft und Verständnis für die Position des anderen geprägt war. Womöglich kam er hier, in seinen letzten Lebensmonaten zu der Erkenntnis, dass Solidarität mitunter auch über Weltanschauungsgrenzen hinausgehen kann – und muss, wenn es darum geht, dass der Mensch das Wichtigste bewahrt: Sein Menschsein.

„Max Sievers zu ehren, reichen historisierende Betrachtungen nicht aus. Ein Mann wie er blickte in die Zukunft und sah ein freies Volk auf freiem Grunde stehen. Aus den Fesseln religiösen Denkens gelöst und von allen knechtenden Zwängen und damit verbundener geistiger Enge befreit, würden die Menschen zu neuen Ufern vorstoßen. Eine Gesellschaftsordnung, die Sozialismus heißt, in der sich die Menschen in einer friedlichen Völkergemeinschaft verbrüdern, gelte es zu errichten. Für diese Ziele stritt Max Sievers, solange sein Herz schlug, und unter diesen Zielsetzungen führte er den zu einer Massenbewegung angewachsenen Deutschen Freidenker-Verband. Die Macht des deutschen Faschismus, das Verbrechen des kriegerischen Welteroberungsversuches hatten ihn in seiner Überzeugung nur bestätigt. Dafür starb er am 17. Januar 1944 im Zuchthaus Brandenburg unter dem Fallbeil. Freies Denken für alle, diesseits bezogen und dem wirklichen Leben zugewandt, auf der Suche nach einer realisierbaren Zukunft, in der Humanität, Frieden, Menschenrecht und solidarisches Miteinander für alle Menschen verbindliche Normen werden, ein solches freies Denken ist noch immer eine Aufgabe, ist noch immer ein Ziel. Solange Denken religiösen Glaubenssätzen und sich darauf stützenden Herrschaftsstrukturen unterworfen ist, solange soziales Handeln an die Grenzen engstirniger, dogmatischer und menschenverachtender Parolen stößt, die ihre geistige Leere nur schwerlich zu bemänteln vermögen, solange sich Massenkommunikationsmittel an Phraseologie und fatalster Trivialität zu übertreffen versuchen, solange Esoterik bemüht ist, die Vernunft einzuschläfern, solange Politik statt sozialer Zielsetzungen eigensüchtige Gruppeninteressen verfolgt und Kriege noch immer als ein probates Mittel gehandhabt werden – solange steht die freigeistige Bewegung in der Pflicht, das aufzunehmen und fortzusetzen, was Max Sievers zu seiner Zeit begonnen hatte.“ [2]

In diesem Sinne: Ehren wir Max Sievers, als einen hervorragenden Kämpfer für die Freiheit des Geistes und gegen die Verdummung, für den Frieden und gegen den Krieg, für eine gerechte Gesellschaft und gegen die Unterdrückung, für den Sozialismus und gegen Imperialismus und Faschismus. Sein Vermächtnis ist uns Verpflichtung!

Ralf Lux ist Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes des Deutschen Freidenker-Verbandes
und Vorsitzender des Brandenburgischen Freidenker-Verbandes

 

Wesentliche Teile der Rede basieren auf dem Artikel „Freidenker und Sozialist Max Sievers – Eine politische Biographie“ von Gernot Bandur, veröffentlicht in FREIDENKER Spezial  3-2004, S. 8 – 47

Fußnoten:

[1] Wolfgang Fleischer: Max Sievers und die Freidenker in der Gegenwart. In: Redebeiträge vom Kolloquium am 17. Januar 2004 zum Gedenken und in Würdigung des Antifaschisten Max Sievers. Sonderausgabe des Freidenker Report – Zeitschrift der Berliner Freidenker. Berlin, 2004, S. 32

[2] ebenda, S. 30 f.


Bildcollage: rlx (unter Verwendung eines Fotos von skeeze (pixabay.com) und des Portraits von Max Sievers (Archiv)

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